Brennende Füsse

Wenn die Füße brennen, taub sind und sich anfühlen, als ob Ameisen darauf laufen, sollte man hellhörig werden. Die Symptome können auf eine Polyneuropathie deuten. Eine Krankheit mit vielen Gesichtern und unterschiedlichsten Ursachen. Allen voran stehen Diabetes und chronischer Alkoholmissbrauch. 

Bei der Polyneuropathie (altgriechisch „polýs“ = viel, „neuron“ = Nerv) handelt es sich um eine Erkrankung der Nerven. Genau genommen ist das periphere Nervensystem (PNS) betroffen. Es liegt außerhalb des zentralen Nervensystems (ZNS), das Gehirn und Rückenmark umfasst. Wie der Name verrät, leitet das PNS Nervenimpulse vom Rückenmark in periphere Körperteile beziehungsweise überträgt von dort aufgenommene Reize zurück in das ZNS. 

Wie auf Watte

Gut 30 Prozent der über 65-Jährigen leiden unter einer Polyneuropathie. Allgemein gesprochen kommt es dabei zu einer Schädigung der Nerven. Davon können sensible, motorische und autonome Nervenfasern betroffen sein, was zu ganz unterschiedlichen Beschwerden führt. Diese beginnen häufig wie folgt: „Die Füße kribbeln, brennen oder stechen, sind taub oder fühlen sich geschwollen an. Beim klassischen Patienten sind die Symptome zunächst sockenförmig begrenzt“, erklärt Dr. Klaus Böck von der Klinik für Neurologie am Neuromed Campus des Kepler Universitätsklinikums Linz. Von Erkrankten ist zu hören, dass sie das Gefühl haben, auf Watte zu gehen, dass etwas die Beine einschnürt oder Ameisen darauf laufen. Die Missempfindungen nehmen mit der Zeit zu, sodass allmählich das Gefühl für die eigenen Füße verloren geht. Das führt so weit, dass der Gang unsicher wird und Gleichgewichtsstörungen auftreten. In den meisten Fällen „steigt“ die Erkrankung auf. Nach den Fußsohlen, Füßen und Unterschenkeln können auch Finger und Hände betroffen sein. Wärme, Schmerzen oder Berührungen nehmen Patienten nur noch eingeschränkt wahr. Das Risiko für Verletzungen ist damit erhöht. 

„Man darf sich aber nicht vorstellen, dass nur die Extremitäten betroffen sind. Bei der Polyneuropathie können verschiedene Nervenfasern geschädigt sein“, sagt Dr. Böck. Das erklärt auch, warum bei einigen Patienten zusätzlich zu den oben erwähnten Beschwerden weitere hinzukommen. Motorische Nervenfasern leiten Befehle vom Zentralnervensystem zu den Muskeln. Sind sie geschädigt, verliert der Muskel an Kraft. Betroffene weisen Lähmungserscheinungen auf oder leiden unter Muskelschwund. Damit ist es aber nicht getan. Die Krankheit mit den vielen Gesichtern macht auch vor dem vegetativen bzw. autonomen Nervensystem nicht Halt. Dieses steuert automatisch ablaufende Vorgänge wie die Verdauung und das Herz-Kreislauf-System, die der Mensch nicht willentlich beeinflussen kann. Eine Schädigung dieser Nerven führt dazu, dass lebenswichtige Körperfunktionen gestört sind. Es können unter anderem Entleerungsstörungen von Darm oder Blase, Potenzprobleme, eine eingeschränkte Schweißproduktion, Herzrhythmusstörungen oder Hautveränderungen auftreten. 

Was steckt nun hinter dieser Erkrankung? Welche Ursachen führen zu dem bunten Beschwerdebild? An erster Stelle steht in den westlichen Industrieländern die Krankheit Diabetes mellitus. Warum das so ist, erklärt der Neurologe folgendermaßen: „Ist zu viel Zucker im Körper, kann sich dieser – bildlich gesprochen – überall anhaften. Die Nieren, Augen und eben auch der Nerv können dann zugrunde gehen.“ 

Gift für die Nerven

Tabletten

Aber auch chronischer Alkoholmissbrauch ist eine häufige Ursache der Polyneuropathie. Warum? Zum einen liegt es an der toxischen Wirkung des Alkohols beziehungsweise dessen Abbauprodukten, zum anderen an der bei Alkoholikern häufiger auftretenden Mangelernährung. Denn ein Vitamin-B-Mangel kann ebenso eine Polyneuropathie auslösen. Doch Vorsicht: „Auch ein Zuviel an bestimmten Vitaminen schädigt die Nerven“, weiß der Mediziner. Weitere Ursachen für die Polyneuropathie sind Erbkrankheiten, Umweltgifte wie Blei oder Quecksilber, oder die längere Einnahme bestimmter Medikamente, etwa zur Krebsbehandlung.  

Alkoholflaschen

Es gibt aber nicht nur langsam fortschreitende Polyneuropathien. Eine akute Form ist das Guillain-Barré-Syndrom, das innerhalb kurzer Zeit zu lebensbedrohlichen Herzrhythmusstörungen führen kann. Ursache ist eine Autoimmunerkrankung: Der Körper selbst greift die peripheren Nervenzellen an. Das Syndrom tritt selten auf und lässt sich mit Antikörpern, sogenannten Immunglobulinen, behandeln.

Frühe Behandlung

Risikopersonen sollten taube, kribbelnde Füße also ernst nehmen. Denn: Je früher die Polyneuropathie behandelt wird, umso besser sind die Heilungsaussichten. Wichtig für die Diagnosestellung sind die vom Patienten beschriebenen Symptome sowie die klinische Untersuchung. Dabei werden die Reflexe und die Sensibilität untersucht, also die Reaktion auf Wärme, Schmerzen und Berührungen. Daneben misst der Neurologe mittels Elektroneurographie (ENG) die Nervenleitgeschwindigkeit. Weitere Untersuchungen sind im Einzelfall angebracht. Dazu gehören etwa ein Elektromyogramm (EMG), eine Analyse des Nervenwassers oder – in seltenen Fällen – eine Nervenbiopsie. Bei familiärer Häufigkeit kann ein Gentest notwendig sein. „Ziel der Untersuchungen ist, eine Ursache zu identifizieren, die man behandeln kann“, erklärt Dr. Klaus Böck. Das ist aber nicht in allen Fällen möglich. „Bei etwa einem Fünftel der Polyneuropathien bleibt die Ursache unklar.“ Hier kommt der Forschung eine wichtige Aufgabe zu. „Es gibt seltene Krankheiten, die Auslöser sein können. Die Frage ist, ob bei jenen Polyneuropathien, wo wir keine Ursachen finden, nicht eine solche Krankheit vorliegt. Hier sind auch entsprechende Studien am Laufen, für die wir Patienten suchen“, so der Neurologe. 

Blutzucker wird am Finger gemessen

Was aber hilft nun gegen die Beschwerden? Dr. Böck: „Die Therapie zielt vor allem auf die Beseitigung beziehungsweise Behandlung der Ursache ab.“ Bei Diabetikern zum Beispiel steht die korrekte Einstellung des Blutzuckers mit regelmäßiger Kontrolle des Langzeitwertes HbA1c an erster Stelle, um das Fortschreiten der Polyneuropathie zu verhindern. Gegen die Schmerzen helfen bestimmte Medikamente. Vitamine gleichen Mangelzustände aus. Physiotherapie wiederum spielt bei Gangunsicherheiten sowie zur langfristigen Verbesserung der Muskelkraft eine wichtige Rolle. Bei Alkoholmissbrauch, der zweithäufigsten Ursache, steht eine Alkoholkarenz im Vordergrund. 

Mann und Frau gehen

Die gute Nachricht ist, dass sich geschädigte Nerven regenerieren können: „Bei einigen Ursachen ist eine Heilung durchaus möglich. So besitzen die Nerven eine Art von Reserve. Einen Nerv kann man sich vorstellen wie ein Kabel mit 50 Strängen, von dem wir beispielsweise nur 20 für eine normale Funktion benötigen. Die verbliebenen Stränge können – natürlich abhängig vom Alter und dem Schaden – die verlorenen Funktionen nach einer gewissen Reorganisierung übernehmen. Wichtig ist, aktiv Bewegung zu machen, gerade bei Gangstörungen. Das ist bei älteren Patienten oft schwierig, trotzdem ist das aktive Gehen eine wichtige Regenerationsmaßnahme“, so der Neurologe. 

Ein Bericht aus dem Internetmagazin „FORUM GESUNDHEIT“ von MMag. Birgit Koxeder-Hessenberger